Gedanken eines Betroffenen.

Abwaesser
Skizze nach The Third Man

Ein Abwaesserrundgang1 sei durchaus möglich, auch für Kunststudenten. Damit habe ich nicht gerechnet, bin positiv überrascht. Wie alle anderen Beamten in der langen Telefonreihe vor ihm, will jedoch auch Herr Wingeier wissen, wieso ich mich denn nun ausgerechnet fürs Abwasser interessiere. Die Frage scheint naheliegend. Nicht dass die Beamten unglücklich wären, darüber dass sich jemand für das interessiert, was normalerweise niemand sehen will. Aber in die ehrliche Freude mischt sich bald auch eine gewisse Skepsis. Ein lauernder Zwischenton, als gäbe es etwas zu verstecken in der Kanalisation. Oder hegen die Abwasserbeamten vielleicht die Vermutung, dass sich der Interessierte am Telefon nicht für die echten, langsam aber stetig plätschernden, teilweise stinkenden Abwasser interessiert, sondern doch eher für mutierte Kanalratten2, aufgedunsene Wasserleichen3 und all die anderen Schauermärchen welche um Kanalisationsanlagen seit je her kursieren. Ich versichere Herrn Wingeier, dass ich lediglich selber einen Blick in die Tunnel werfen möchte, erwähne mein Abschlussprojekt, sage Comic und Internet, und damit ist die erste Neugier bei Herrn Wingeier gestillt. Wir verabreden uns für den kommenden Freitag und er empfiehlt mir, eine einfache Atemmaske zu besorgen, so wie diejenigen die während der Schweinegrippe temporären Aufwind gehabt hätten.

Ohne Maske, dafür mit einem Skizzenbuch laufe ich am abgemachten Termin zum Treffpunkt. In der Altstadt begegnen mir einmal mehr die Frischwasserbächlein welche in der Strassenmitte unter rostigen Gittern oder offen durch die Touristengasse plätschern. Genau solche Schaufensterbächlein, sind Ausdruck unserer Faszination für die Idee und den Stoff Wasser in seiner sauberen Form. Aber Abwasser! Nur durch ein unverfängliches „Ab“ und in der Mehrzahl ein linkisches „ä“ vom Universalbegriff Wasser getrennt, öffnen sich gänzlich andere Gedankenwelten. Der Begriff Abwasser ist wie eine Gegenthese, die Kehrseite einer Ikone. Ausdruck der notwendigen Parallelwelt einer Gesellschaft, die ihren Schmutz hinter glänzenden Plättchen und unter sauberen WC Schüsseln auf Knopfdruck wegspült. Und wegen dem Geruch kann man ja lüften.

Der Abwasserinspektor, welcher mich empfängt, tritt nervös von einem Fuss auf den anderen. Es windet und der Himmel ist grau verhangen. Er schlottert kaum merklich, raucht zügig an seiner Zigarette und beäugt mich schon von weitem mit einem starren undurchsichtigen Blick. Sieht es so aus, wenn man durchschaut wird, oder schaut er eher durch mich hindurch? Ich stelle mich mit Nachnamen vor und Herr Wingeier tut es mir gleich. Bevor wir loslaufen wirft er die Zigarette in den dafür vorgesehenen Aschenbecher, wie jemand der weiss, welche Mühe unsachgemässe Entsorgung von Schmutzstoffen verursacht. Herr Wingeier trägt einen grau melierten Schnauz, leicht nikotingebräunt, dazu einen Arbeitsanzug und schütteres Haar unter einer Mütze. Wir sprechen kaum, lassen ein paar Kommentare über das Wetter fallen und sind nach kurzer Zeit schon bei einer unscheinbaren Türe angelangt, welche mit einer Klingel und dem Aufdruck Klärwerk versehen ist. Durch einen betonierten Treppengang gelangen wir zu einer massiven Metalltüre hinter der sich schliesslich ein Kanalisationstunnel zeigt. Es ist eine Schweizer Kanalisation und der erwartete Geruch bleibt aus. Wir steigen wortlos über den Betonstieg, halten uns an soliden Metallgeländern fest und erst als die zweite Betontüre sich öffnet, wallt der Geruch der Abwässer in den Schacht. Vor uns öffnet sich ein grosser Kanal, in dessen Mitte ein sumpfiges Wasser gemächlich abfliesst. In der Luft hängen Aromen von Verfaultem und Fäkalien, ein dumpfer Gestank dessen beissender Unterton durch allerlei Säuberungsverfahren bereits beschnitten wurde. Die Atmosphäre ist kühl und kontrolliert, Herr Wingeier erzählt von den modernen Entwässerungssystemen, von Absetzbecken und Sandfängen über den Rechen, vom Belebtschlammbecken bis hin zum Nachklärbecken. Mein Interesse belebt den Erzähler zusehends und nach den Hallen und Becken der Kläranlage, treten wir zum Schluss auch noch in die scheinbare Kommandokammer der Anlage, einen mit Bildschirmen gefüllten Raum, in welchem die Bilder dutzender Überwachungskameras aus der Kanalisation übertragen werden. Auf kontrastarmen Bewegtbildern fliessen hier die Abwaesser geruch- und geräuschlos durch die Bilschirme4.

Nach dem Rundgang setzen wir uns zu zwei Kafi Cremes in eine Beiz welche den Abwässern nahe steht. Herr Wingeier will nun doch nochmals genau wissen, in welche Richtung ich den nun das Gesehene verarbeiten wolle. Comics, hole ich aus, und probiere zu erklären wie ein Comic anders gelesen wird, wenn es auf dem Bildschirm statt auf einer gedruckten Zeitungsseite steht. «Mediengerecht» ist einer der Begriffe, die ich zur Hilfe nehme beim Versuch, ihm zu erklären, was das Internet als Medium für den Comic zu bieten hat. Über die momentane Realität der Webcomics schweige ich mich indessen lieber aus. Herr Wingeier hört interessiert zu und verspricht mir ein zweites Treffen in einem der alten Kanalisationsabschnitte der Stadt. Wir verlassen das Lokal, der Himmel ist weiterhin trüb.

Erneut laufe ich durch die Gassen und erinnere mich an Loetschers Schilderung5 des Kanalisationsplanes6 im Büro des Abwasserinspektors; Wie die Gebäude und Strassen der Stadt in leichtem grau gedruckt sind, und darüber in dicken schwarzen Linien die Kanäle und Einrichtungen des Entwässerungssystems. Als wäre der Kanalisationsgrund unter unseren Füssen weitaus beständiger als die sichtbaren überirdischen Gebäude, welche auf dem Plan eher provisorisch markiert wirken. Gleichzeitig erinnere ich mich auch an Loetschers Aussage, man könne den Abwässern nicht begegnen, ohne zu bleiben oder sie zu romantiesieren, und die Schilderung der Kanalisationsplans scheint mir beginnende Romantik zu sein.

Herr Wingeier bleibt bei seinen Kanälen, Überwachungssystemen, und Kanalbauregulierungen7. Ich selber bin auf dem Weg in mein Atelier, um die gesehenen Eindrücke auf Papier zu wälzen8. Die Frage der Abwasserbeamten nach dem Grund meines Interesses muss ich mir auch selber stellen. Vielleicht ist es die Suche nach der scheinbaren Permanenz des Kanalisation welche Loetscher mit seinem Plan anschneidet. Wenn es oben keine Absolution mehr zu holen gibt, wird es Zeit, dass sich unten mal jemand umschaut. Oder vielleicht sind die Abwässer auch einfach nur ein dankbarer Ausdruck für eine Weltsicht, welche es sich nicht nehmen lässt, auf Dingen zu fussen, die in der Lifestylerubrik der Gratisblätter keinen Platz haben9. Die Suche nach unbesetztem Boden, einem Basiscamp. Wo gelangt man von der Kanalisation aus? Zurück ins Leben. Die dreckigen Ströme werden im Untergrund versickert, von Bakterien zerpflückt und auf Feldern zersetzt um sich abermals zusammenschwemmen zu lassen, mit etwas mehr oder weniger Restschmutz durch Rohre gepumpt zu werden, und erneut dienstbar aus Wasserhähnen zu tropfen oder zu spritzen.

Herr Wingeier erwartet mich zum zweiten Rundgang an einem anderen Treffpunkt, wir begrüssen uns wie Eingeweihte und schreiten alsbald los. Diesmal durch die verwinkelten engen Gassen der Altstadt, einer hölzernen Hintertür entgegen, welche sich in eine Treppenhaus aus Sandstein öffnet. Leises Knirschen unter unseren Schuhen, als wir die Treppe hinuntersteigen. Herr Wingeiers Taschenlampe flickert über alte Bögen unter denen ein leises Abwasser durch ein stellenweise erodiertes Bett fliesst. Am Rand des Kanals hängt, im Rythmus der Wellen zuckend eine braune Bananenschale, ein einsames Schwemmstück. Herr Wingeier erklärt etwas zum Alter und Bauart dieses Kanals, und dann stehen wir schweigend in dem Tunnel und sehen wie hypnotisiert zu, wie das Wasser plätschert. Nach einer Weile frage ich, wie er zu seinem Job bei der Abwässerverwaltung gekommen sei. Er blickt mich überrascht an und erwidert:

Irgendwo muss man ja anfangen.10

1 :
2 :
Herrscher der mutierten Kanalratten: http://de.wikipedia.org/wiki/Rattenkönig.
4 :
Manchmal verirren sich auch Tiere vor die Kamera: Huhn in der Kanalisation, Youtube.
6 :
Auch das gibt es mittlerweile in 3D: Abwasserplan, via weyer-edv.de
7 :
Es gibt einige. Das Taschenbuch der Stadtentwässerung beschäftigt sich mit Gesetzlichen Anforderungen ab Seite 437 und Folgende.
9 :
Fragen wir Google
 

Vollständiges Literatur- und Quellenverzeichnis

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